"Auf ihrer neuen, von Kant gelegten Grundlage erhob die Philosophie Anspruch darauf, alle kulturellen Daten interpretieren zu können. Diese Behauptung als solche hatte den institutionellen Effekt, eine neue Allianz zwischen dem Staat und einer philosophischen Fakultät zu schmieden, die kurz zuvor ihrer Abschaffung aufgrund sozialer Nutzlosigkeit eben noch entgangen war. Deshalb sollte die Reform der deutschen Universitäten, ihren leitenden Philosophen zufolge, gerade umgekehrt alle Brot- und alle Naturwissenschaften ausschließen, zumindest aus einer philosophischen Fakultät, der dieses Manöver mit einemmal den höchsten Rang unter allen Fakultäten verschaffte. An der Spitze dieser Spitze standen fortan Philosophie und Philologie, mit anderen Worten: die natürliche Sprache des Denkens und das Denken der natürlichen Sprachen. (...) Glücklicherweise fand die geplante Ausschließung aller harter Wissenschaften aus deutschen Universitäten nicht statt, aber schon ihre Drohung hatte einen bemerkenswerten Nebeneffekt. Es entstanden nämlich, sozusagen aus Rache, völlig neue Wissensformen. Im selben Augenblick, wo die Philosophie daran ging, kulturelle Daten als solche zu begreifen oder zu interpretieren, begann die Psychophysik, wie ihr Begründer Gustav Theodor Fechner sie taufte, dieselben kulturellen Daten als naturwissenschaftliche zu entziffern. Fechner in Leipzig und seinen Nachfolgern in Berlin, vor allem Herrmann Ferdinand von Helmholtz, gelang es zum erstenmal, den Datenfluß sinnlicher Wahrnehmungen in mathematischen Formeln anzuschreiben. Was Heinz von Förster Ordnung aus dem Chaos genannt hat, entsprang also nicht mehr, wie zu Zeiten Kants, aus einer vom transzendentalen Ego geleisteten Synthese; zu ihrer unbewußten Existenz kam die Wahrnehmungsordnung vielmehr kraft der elektrischen Potentiale und logarithmischen Übertragungsfunktionen eines Nervensystems". (Kittler)

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